Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg (München: C. H. Beck, 2015).

von Riccardo Altieri

Seit „Die Julikrise“ von Annika Mombauer (Senior Lecturer an der Open University in Milton Keynes, UK) im Jahr 2014 erschien, wurde eine stattliche Anzahl an Rezensionen[1] zu dem kurzen Band aus der Reihe C. H. Beck Wissen veröffentlicht. Dabei löste die Monographie unterschiedlichste Reaktionen aus, die in diese Rezension teilweise einfließen sollen. Zunächst sei auf die Qualifikation der Autorin auf dem Themenfeld verwiesen, was sich an den wichtigsten Publikationen demonstrieren lässt.[2] Allein deshalb darf sie als Expertin gelten, was die Lektüre ihrer Werke zum Kontext des Ersten Weltkriegs empfiehlt. Für die Vorbereitung auf eine schriftliche Studienabschlussprüfung liefert der hier behandelte Band die günstigsten Voraussetzungen, sowohl auf finanzieller als auch auf arbeitsökonomischer Ebene.

Mit ihrer in der Tradition von Fritz Fischer[3] stehenden Perspektive auf die Schuldfrage nimmt Annika Mombauer klar eine Gegenposition zu Christopher Clark und Herfried Münkler ein, die sie aus diesem Grund auch mehrfach erwähnt.[4] Bereits im Abstract des Buches heißt es: „Dabei grenzt sie sich klar von neueren Tendenzen ab, die Verantwortung Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches für die Eskalation der Krise zu verwischen.“ Wie strukturiert Mombauer nun ihren Band, um die gewünschten Interpretationen mit den historischen Ereignissen zu verknüpfen?

Im ersten Kapitel nach der Einleitung beschäftigt sich die Autorin zunächst mit der Vorkriegsdiplomatie (S. 15-26). Einer der Hauptaspekte der Arbeit beruht in der Neutralität Belgiens, weshalb sie bereits früh die Rolle des Nachbarstaates versinnbildlicht: „Zusammen mit dem deutschen Kaiser versuchte Moltke in Besprechungen mit dem belgischen König im November 1913 zu erwirken, dass Belgien deutschen Truppen widerstandslos erlauben würde, durch sein Gebiet zu marschieren“ (S. 19). Über unterschiedliche Etappen baut sie die Abhandlung mit diesem Ereignis auf, schildert die sich graduell zuspitzenden Ereignisse und endet mit dem Höhepunkt, dem Kriegseintritt des unentschlossenen Empire, als klar wurde, dass Belgiens Neutralität verletzt werden würde. Der Bonner Historiker Andreas Rose[5] ging in seiner Rezension[6] hart mit Mombauer ins Gericht und warf ihr u. a. vor, Tatsachen wie die Schließung deutscher Flugzeugwerften und den Verzicht auf Munitionsproduktion im Februar 1914 zu unterschlagen. Dem hält die Autorin entgegen, dass sich entscheidende Größen im internationalen Lager durchaus über den notwendigen Beginn des Krieges austauschten. In einer Unterhaltung zwischen dem deutschen Militärattaché und Alberto Pollio im Mai 1914 fragte letzterer: „Warum beginnen wir nicht jetzt diesen unvermeidlichen Krieg?“ (S. 21). Ganz allgemein untermauert Mombauer ihre Aussagen stets mit zeitgenössischen Zitaten, wenngleich diese ob des vorgegebenen Formats im Beck-Verlag nicht direkt angegeben werden.

Im zweiten Hauptkapitel mit dem Titel „Tod in Sarajewo“ (S. 26-34) widmet sie sich dem wissenschaftlich unumstrittenen Attentat auf den österreichischen Thronfolger, ehe sie im nächsten Kapitel (S. 34-60) die Reaktionen auf dieses Initialereignis analysiert. Den Vorwurf Roses im Blick, Mombauer würde sich ausschließlich mit der Reaktion auf Seiten Berlins und Wiens beschäftigen, kann ein Satz diese Kritik entkräften: „Erst am 23. Juli, dem Tag der Übergabe des Ultimatums, wurde die Julikrise wirklich international“, da zuvor alle Entscheidungen auf Seiten des „Zweibundes“[7] getroffen worden seien (S. 59). Im vierten Hauptkapitel (S. 60-77) widmet sich die Autorin ebendiesem Ultimatum aus Wien, wobei sie zu folgendem Erkenntnisgewinn gelangt: Das Ultimatum sowie die serbische Antwortnote sollten aus der Perspektive des Zweibundes einen Krieg mit Serbien zur Folge haben, der einen europäischen Konflikt unweigerlich nach sich gezogen hätte, was man als Risiko bewusst in Kauf nahm. Das Hauptziel eines solchen Krieges wäre ein Sieg Österreich-Ungarns gewesen und damit einhergehend ein Erstarken der Doppelmonarchie sowie eine ausreichende Machtdemonstration gegenüber den anderen Großmächten. Einen Weltkrieg wollten allerdings weder Berlin noch Wien heraufbeschwören (S. 76f.).

Im fünften und zentralen Hauptkapitel (S. 77-95) des Werkes über die „Vermittlungsversuche der Großmächte“ untereinander verarbeitet Mombauer ihre Antwort auf die Schuldfrage, ehe sie zuletzt die „Mobilmachung und den Ausbruch des Weltkrieges“ (S. 95-117) zusammenfasst. Nachdem Kaiser Wilhelm II. über die Antwortnote aus Belgrad in Kenntnis gesetzt wurde, in der eine „Kapitulation demüthigster Art“ zu erkennen war, begann er aus der Perspektive seines Generalstabs erneut damit, den Kriegsgedanken zu verwerfen (S. 81f.). „Des Kaisers ‚Halt in Belgrad‘-Befehl hätte in der Tat den Ausbruch des Krieges noch vermeiden können“ (S. 82). Wilhelms Demarche wurde von Reichskanzler Bethmann-Hollweg nach Wien gesandt, wo sie am 29. Juli eintraf – allerdings nicht mehr rechtzeitig. Die k. u. k.-Truppen hatten zwischenzeitlich mit der völkerrechtswidrigen Bombardierung Belgrads begonnen (ebd.). Am selben Tag wollte Sir Edward Grey in England eine resignierte Nachricht an Frankreich schicken, in der er gewissermaßen äußerte: „zählt nicht darauf, dass wir dabei sind“ (S. 85). Einzig ein Angriff auf die Neutralität Belgiens konnte das Inselreich noch zum Meinungswandel führen. Christopher Clark bezeichnete Greys Versuche, den Krieg für England zu verhindern, als „halbherzig“ (S. 86). Als sich jedoch das Blatt wendete und der Zweibund nun der Entente aus Frankreich, Russland und England gegenüberstand, bezeichnete Wilhelm den britischen Außenminister als „Täuscher“ und „gemeine[n] Hundsfott!“ (S. 88). Der italienische Generalstabschef Alberto Pollio verstarb am 1. Juli 1914 unerwartet, weshalb Italien bis Kriegsbeginn keinen Verantwortlichen benennen konnte, um auf Seiten des „Dreibundes“ in die Verhandlungen einsteigen zu können (S. 94).

Nachdem Mombauer die wichtigsten Quellen zur Diplomatie während der Julikrise angeführt hat, kommt sie zu dem Ergebnis, dass in der Verhandlungsphase wie auch im Moment der Eskalation eine allgemeine Ungenauigkeit in der Frage der Schuldzuweisung nicht endgültig geklärt werden könne. Kriegserklärungen folgten in so rascher Abfolge aufeinander, dass eine Beweisführung ausschließlich mithilfe weniger Stunden oder Tage Zeitunterschied nicht ausreichen könne. Anders beurteilt sie die Schuld jedoch in der Frage des eigentlichen Kriegsbeginnes: „Das Kalkül mag zu seiner Zeit aufgegangen sein. Dennoch steht fest, dass Österreich-Ungarn und Deutschland 1914 zuerst angegriffen haben und dass es Berlin zwar gelang, als angegriffene Partei zu erscheinen, dass wir uns aber hundert Jahre später von dieser Propaganda nicht mehr täuschen lassen sollten“ (S. 96). Noch in den Schlussbemerkungen widerspricht sie daher erneut Christopher Clark: „(…) die Verantwortlichen waren keine ‚Schlafwandler‘“ (S. 118f.).

[1] Neben den ausdrücklich zitierten seien hier vor allem die Rezensionen von Rainer Blasius [http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/annika-mombauer-die-julikrise-christa-poeppelmann-juli-1914-furcht-und-selbstueberschaetzung-12840411.html (eingesehen am 08.06.2015)] und Martin Munke [http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19484 (eingesehen am 08.06.2015)] genannt.

[2] Mombauer, Annika: Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War, Cambridge 2001; Mombauer, Annika: The Origins of the First World War. Controversies and Consensus, London 2002. Besonders positiv wurde ihre Quellenedition aus dem Jahr 2013 aufgenommen: Mombauer, Annika (Hrsg.): The Origins of the First World War: Diplomatic and Military Documents, Manchester 2013.

[3] Fischer, Fritz: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1961. In weiteren Publikationen widersprach Fischer nachdrücklich der Auffassung David Lloyd Georges, Europa sei in den Krieg hineingeschlittert, was Christopher Clark indirekt in seinem Titel aufgriff (vgl. Fußnote 3): Fischer, Fritz: Juli 1914. Wir sind nicht hineingeschlittert, Reinbek bei Hamburg 1983.

[4] Die beiden Autoren lieferten in jüngster Zeit umfangreiche Monographien zum Ersten Weltkrieg, beziehen darin eine neutralere Position als Mombauer und operieren methodisch mit einer multilateralen Perspektive auf die Ereignisse. Vgl. Clark, Christopher: Die Schlafwandler, München 2013; Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918, Berlin 2013.

[5] Auch Rose gilt als Experte für die Geschichte und Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges: Vgl. Rose, Andreas: Zwischen Empire und Kontinent – Zur Transformation britischer Außen- und Sicherheitspolitik im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, München 2011 (Diss. phil. Universität Augsburg 2008); Rose, Andreas: Die Außenpolitik des Wilhelminischen Kaisserreiches (1890-1918), Darmstadt 2013; ferner Mulligan, William; Rose, Andreas; Geppert, Dominik (Hrsg.): The Wars before the War. Conflict and International Politics before the Outbreak of the First World War, Cambridge 2015.

[6] URL: http://www.sehepunkte.de/2014/07/24636.html (eingesehen am 08.06.2015).

[7] Eigentlich bestand der „Dreibund“ aus dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und Italien, allerdings wurde Rom in wichtigen Fragen aus Wiener Skepsis oftmals nicht hinzugezogen, weshalb der seit 1882 überholte Begriff scheinbar neuerlich an Bedeutung gewann. Dieses Verhalten hatte weitreichende Konsequenzen auf die Positionierung der Italiener im eigentlichen Krieg.